Digitale Kinder mit traditionellen Gewohnheiten

Kind sein ist heute eine ganz andere Herausforderung als noch vor 20 Jahren. Kinder wachsen in eine duale Welt von analogen und digitalen Medien- und Freizeitaktivitäten hinein. Gleichzeitig stehen sie tagtäglich im Spannungsfeld zwischen Digitalisierung, Leistungsdruck und Freizeit. Ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, kann zu einer Herausforderung werden.

2010 erschienen die ersten Tablets heutiger Art, die ersten Streaming-Dienste wurden in Deutschland zwei Jahre später aktiv. Kinder im Alter zwischen 8 und 13 Jahren haben von Anfang an die erweiterte Medienvielfalt kennengelernt. Sie wachsen "always on" auf, man muss nicht extra "online gehen" und kann jederzeit auf verschiedene Inhalte zugreifen. Trotzdem verbringen sie den größten Teil ihrer Medienzeit mit klassischen Medien – insbesondere das lineare Fernsehen fasziniert auch die Kids von heute.

Enges Erhebungsraster für belastbare Zahlen

Viele vermeintliche Gewissheiten über Mediennutzung im Alltag lösen sich in Luft auf, wenn die Nutzer in Echtzeit (also ohne den Einfluss von Erinnerungseffekten) befragt werden und sichergestellt ist, dass alle Arten der Mediennutzung die gleiche Chance auf Erfassung haben. Mit der Touchpoints Kids 2019* haben wir bereits zum dritten Mal eine Smartphone-Tagebuchstudie in der Kinderzielgruppe durchgeführt. Eine 30-minütige Erhebungsfrequenz über 3 Tage hinweg liefert detaillierte Angaben darüber, wo und ggf. mit wem zusammen die rund 400 befragten 8- bis 10-jährigen Kinder mediale Angebote genutzt haben. Die Studie zeigt: Audiovisuelle Inhalte spielen für Kinder im Alltag eine sehr große Rolle. Dabei bleibt der große TV-Schirm die mit weitem Abstand wichtigste Plattform: In den 3 Tagen der Befragung nutzten 93 Prozent der Kinder ein TV-Gerät, 48 Prozent ein Smartphone und 34 Prozent ein Notebook oder einen Desktop-PC. Nur 11 Prozent der Kinder hielten im gleichen Zeitraum ein Tablet in der Hand. Das Klischee über Kinder, die ständig und überall YouTube-Videos auf mobilen Devices streamen, kann also nicht stimmen.

Der große Schirm bleibt das Herzstück der Videonutzung

An einem durchschnittlichen Tag (Mo.–So.) wird das TV-Gerät von den Kindern 66 Minuten genutzt, hiervon entfallen 54 Minuten auf das lineare Fernsehen. Während 83 Prozent aller TV-Messzeitpunkte werden klassische Sender gesehen. 7 Prozent der Nutzungskontakte steuern Streaming-Anbieter wie Amazon Prime Video oder Netflix bei, in immerhin 5 Prozent der Fälle rotiert sogar noch eine DVD oder Blu-Ray im Player. Inhalte von Plattformen wie YouTube steuern dagegen gerade einmal 2 Prozent zur Nutzung auf dem großen Screen bei. Die hohe Relevanz des klassischen Fernsehens in der Zielgruppe der 8- bis 13-Jährigen belegt auch ein Blick auf die Smartphone-Nutzung: Hierauf entfallen durchschnittlich nur 31 Minuten am Tag – und diese vorwiegend zur persönlichen Kommunikation – , auf PC oder Laptop 12 und auf das Tablet gerade einmal 4 Minuten. Das Smartphone ist das Gerät, dessen Nutzung den stärksten Veränderungen unterworfen ist, wenn Kinder älter werden: Schüler weiterführender Schulen verbringen fünfmal so viel Zeit mit iPhone und Co. wie Grundschüler (52 vs. 10 Minuten pro Tag). Auch das TV-Gerät wird von 11- bis 13-Jährigen extensiver genutzt als von jüngeren Kindern (70 vs. 62 Minuten/Tag).

Wichtigster YouTube-Inhalt ist Musik

Betrachtet man die Summe der Videonutzung über alle kleinen und großen Screens hinweg, entfallen auf das lineare Fernsehen 74 Prozent (8- bis 10-Jährige) bzw. 67 Prozent (11- bis 13-Jährige) der Videokontakte. YouTube-Kontakte machen in der jüngeren Zielgruppe 13 Prozent aus, bei den älteren 16 Prozent. Am häufigsten werden bei YouTube Musikvideos konsumiert (22 Prozent aller Kontakte bei den 8- bis 10-Jährigen, 46 Prozent bei den 11- bis 13-Jährigen). An Videos von YouTubern haben jüngere Kinder dagegen noch kaum Interesse (12% vs. 28% bei den 11- bis 13-Jährigen). Insgesamt lässt sich feststellen, dass YouTube für die Kinder kein Ersatz für lineares TV ist, sondern eine Ergänzung der Angebote. Dementsprechend sind die meisten YouTube-Nutzer auch über das lineare TV erreichbar – YouTube erzielte im Befragungszeitraum gerade einmal 3 Prozent (8- bis 10-Jährige) bzw. 5 Prozent (11- bis- 13-Jährige) zusätzliche Reichweite. Das heißt, nur 3 Prozent der 8- bis 10-Jährigen hatten im Befragungszeitraum keinen TV-Kontakt, jedoch einen YouTube Kontakt. Alle anderen Kinder mit YouTube-Kontakt nutzten im selben Zeitraum auch lineares TV.

Die digitale Generation liest noch viel auf Papier

Kinder haben heute erheblich mehr Auswahl an digitalen Unterhaltungsangeboten auf viel mehr Endgeräten als noch vor 10 Jahren. Trotzdem belegt den zweiten Platz der Nettoreichweite (3 Tage) und der täglichen Nutzungsdauer in der Freizeit kein modernes Device, sondern Bücher und Magazine. Durchschnittlich wurde mehr als eine halbe Stunde pro Tag gelesen (35 Minuten). Ein Drittel der Lesezeit entfällt auf werberelevante Printprodukte wie Magazine und Comics, in knapp einem Drittel der Zeit werden Schulbücher gelesen, in der restlichen Zeit schmökern Kinder in anderen Büchern.

Souveräner Umgang mit der Vielfalt

Den Kindern erschließt sich heute also eine viel größere Medienwelt als früheren Generationen, das hat aber nur einen eingeschränkten Einfluss auf ihre Präferenzen. Kinder lieben es immer noch, sich von Geschichten im Fernsehen, in Büchern oder auch in Audiomedien fesseln zu lassen – für das "Snacken" kompakter medialer Inhalte im Web oder auf Plattformen wie YouTube wird dagegen viel weniger Zeit aufgewendet. Die "Multimedia-Generation" nutzt souverän die Vielfalt an Devices und Inhalten und unterscheidet nicht zwischen "alten" und "neuen" Medien. Multitasking spielt dabei übrigens nur eine geringe Rolle: Kinder konzentrieren sich bei der Nutzung meistens auf ein Gerät. So wird etwa lineares Fernsehen in 93 Prozent der Kontakte exklusiv genutzt, also ohne dass parallel dazu Smartphone oder Tablet im Spiel wären.

Fazit

Die erste digitale Generation hat Zugriff auf die ganze Vielfalt an medialen Devices und Inhalten. Die Nutzungspräferenzen folgen aber den Mustern früherer Generationen: Kinder mögen es, von Geschichten gefesselt zu werden. Sowohl das lineare Fernsehen als auch Bücher bzw. Magazine und Hörmedien liegen bei der tatsächlichen Nutzung der 8- bis 13-Jährigen weit vor Angeboten wie YouTube oder Streaming-Diensten. Der Löwenanteil des Bewegtbildkonsums findet weiterhin am großen Fernseher statt.

*Methodik: Für die Touchpoints Kids 2019 wurden über 400 Kinder drei Tage lang per Smartphone im Halbstundenrhythmus zu Aktivitäten, Aufenthaltsorten und Umfeld befragt – ausgenommen von der Befragung waren Schul-, Betreuungs-, Trainings- und Schlafenszeiten. Dabei entstanden mehr als 13.000 Momentaufnahmen, die ein sehr aussagekräftiges Bild des kindlichen Alltags zeichnen.