Ethik und KI: Zwischen Innovation, Marke und Moral

Künstliche Intelligenz wird die Arbeitswelt bei werbungtreibenden Unternehmen, Agenturen und Medien grundlegend verändern. Grund genug für Screenforce, dem Thema erstmals ein Expertenforum zu widmen. Drei versierte Referenten stellten ihre Erfahrungen und Learnings mit KI vor. 

Dr. Christian Bachem (Geschäftsführer MARKENDIENST), ist ein renommierter Experte im Bereich der angewandten KI und war lange Zeit am Fraunhofer-Institut für Algorithmen und Wissenschaftliches Rechnen SCAI tätig. Dort leitete er Forschungsprojekte zur Entwicklung von Optimierungsalgorithmen und intelligenten Systemen.

In seinem Vortrag "KI: Marketing-Hype oder historischer Umbruch?" erläuterte Bachem die Geschichte der KI und ordnete den aktuellen Stand der Entwicklung ein. Er erwartet, dass KI nicht nur ein Hype ist, sondern substanzielle Veränderungen im Marketingbereich herbeiführen wird, die durchaus als historischer Umbruch betrachtet werden könnten.

Mit dem Konzept intelligenter Maschinen beschäftigte sich bereits 1936 Alan Turing – der britische Wissenschaftler, der später im zweiten Weltkrieg mit seinem Team das Verschlüsselungssystem der deutschen Wehrmacht dekodierte. Er entwickelte 1950 das Konzept eines Tests, mit dem überprüft werden sollte, ob ein Dialog mit einem Menschen oder einer Maschine stattfindet*. Der Begriff „Künstliche Intelligenz“ wurde dann erstmals 1956 im Rahmen einer Konferenz am Dartmouth College in New Hampshire geprägt.

Bachem hob hervor, dass es zwar in der somit über 70-jährigen Geschichte der KI immer wieder Phasen langsamerer Entwicklung (und reduzierter Erwartungen) gegeben habe, sogenannte „KI-Winter“. Die Situation sei aber jetzt dank massivem Zuwachs an Rechenleistung, guter Datenverfügbarkeit und dem großen Kapitaleinsatz der Tech-Konzerne komplett anders.

Im Marketing sei KI bereits heute stark verankert: KI ermögliche Targeting-Lösungen, programmatische Werbung und helfe bei der Analyse, Vorhersage und Steuerung von Kampagnen. Die Bandbreite der Tools reiche von Analytics über Budgetallokation bis hin zur Identifizierung von Trends und der Unterstützung bei der Entscheidungsfindung.

Dabei sei KI nicht nur ein Thema für das Marketing großer Marken: Bachem demonstrierte unter anderem am Beispiel eines Anbieters für Kellerabdichtungssysteme, wie KI gerade bei kleineren Budgets helfen kann, das Optimum an Wirkung zu erzielen. Für dieses Unternehmen wurden mittels KI frei verfügbare Geo- und Wetterdaten so verknüpft, dass Online-Kampagnen gezielt in Starkregenregionen ausgespielt werden – und zwar bereits einige Tage vor dem potenziellen Schadensereignis.

Die Zukunft des Marketings werde zunehmend von KI durchdrungen sein, und Marketing-Verantwortliche müssten sich darauf einstellen, diese Technologie in ihre Strategien zu integrieren – oder sogar ihren gesamten Workflow neu um KI herum zu gestalten.

Den Vortrag und die Präsentation von Dr. Christian Bachem finden Sie hier auf der Screenforce-Website.

KI Beyond Buzzwords

Mit über einem Jahrzehnt Erfahrung in Online-Marketing und MarTech verfolgt Jens Polomski leidenschaftlich die Entwicklungen an der innovativen Schnittstelle von künstlicher Intelligenz (KI) und Marketing. 2019 startete er einen Blog, der sich den neuesten Trends in KI und Marketing verschrieben hat, und gibt parallel dazu einen KI-Newsletter heraus, der mittlerweile 18.000 begeisterte Leser zählt. Auf LinkedIn wurde er 2023 für seine Beiträge als "Top Voice" im Bereich KI geehrt.

In seinem Vortrag "Beyond Buzzwords: Konkrete KI-Lösungen im Marketing" führte Polomski am Beispiel einer fiktiven Kaffeemarke durch einige der heute verfügbaren KI-Tools. Er demonstrierte, wie KI heute schon Marketer bei Strategie, Marktanalyse, Content Creation und Wirkungsanalyse unterstützen kann. Polomski empfiehlt, sich auf jeden Fall aktiv mit den Tools auseinanderzusetzen – als Erweiterung der begrenzten menschlichen Fähigkeiten, um mit Hilfe von KI das Beste herauszuholen. Vielleicht sei heute noch nicht jede KI-Anwendung ausgereift, aber es mache Sinn, die Entwicklung im Auge zu behalten. Vor allem generative KI sei heute schon sehr mächtig.

Über aktuelle Entwicklungen zum Einsatz von KI im Marketing informiert Jens Polomski regelmäßig in seinem KI-Newsletter.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Julian Nida-Rümelin ist Experte im Bereich der ethischen, philosophischen und gesellschaftlichen Dimension von KI sowie deren Auswirkungen auf Gesellschaft Politik und Gesellschaft. Er lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität in München im Masterstudiengang Philosophie – Politik – Wirtschaft, als Honorarprofessor an der Humboldt Universität Berlin und als Gastprofessor an ausländischen Hochschulen. Nida-Rümelin ist Direktor am Bayerischen Institut für digitale Transformation und stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats.

In seinem Vortrag "Ist der Digitale Humanismus die angemessene Antwort auf die ethischen Herausforderungen durch Künstliche Intelligenz?" ordnete Nida-Rümelin die aktuellen öffentlichen Diskussionen über die potenziellen Gefahren (zu) wirkmächtiger KI ein.

Die Europäische Kommission strebe einen eigenen Weg der digitalen Transformation an, der sich vom rein kommerziellen US-Modell und dem kontrollorientierten chinesischen Weg unterscheide. Sie betone die Notwendigkeit digitaler Souveränität und ethischer KI. Allerdings würden bislang immer noch klare Definitionen dieser Konzepte fehlen, was zu Unsicherheit führe.

Generell sei die Situation bestimmt durch übertriebene Euphorie auf der einen Seite und apokalyptischen Ängsten auf der anderen. Das gipfele in der Befürchtung, dass der Mensch nicht nur durch die KI in immer mehr Bereichen des Alltags ersetzt werde, sondern KI den Menschen als solchen ganz ersetzen könne.

Diese Anthropomorphisierung von Robotik birge die Gefahr falscher Vorstellungen und unrealistischer Erwartungen. Es gäbe in der Softwareentwicklung eine Tendenz, alte Mythen aus Science-Fiction-Filmen erfüllen zu wollen. Das sei auch in Ordnung, solange es nützliche Tools hervorbringe. Doch eine ideologische Verklärung, die menschliche Verantwortung marginalisiere und die Vorstellung einer drohenden Maschinenherrschaft aufbaue, sei problematisch.

Stattdessen plädiert Nida-Rümelin für eine zügige, produktive Integration dieser Technologien in die Wirtschaft – weg von der Vorstellung, damit die menschliche Lebensform grundlegend zu verändern oder gar Transhumanismus zu schaffen. Deutschland sei – allen Unkenrufen zum Trotz – hierfür gar nicht einmal schlecht aufgestellt.

 

Der Lesetipp: Julian Nida-Rümelin, Nathalie Weidenfeld (2023): "Was kann und darf Künstliche Intelligenz? Ein Plädoyer für Digitalen Humanismus." Piper, ISBN 9783492320467

*Der „Turing-Test“ gilt als bestanden, wenn mindestens 30 Prozent der Probanden im Dialog mit einer KI glauben, dass sie mit einem Menschen sprechen. Dieses Kriterium wurde erstmals 2014 erfüllt, als ein KI-System 33 Prozent der Probanden davon überzeugte, mit einem 13-Jährigen Schüler aus Odessa zu sprechen.