Ein goldenes Zeitalter der Marke

Beim Screenforce Expertenforum erläutert Martin Andree, auf was Marken heute achten müssen, um in der zersplitterten Medienwelt erfolgreich zu sein. Die Digitalisierung ist dabei sowohl Fluch als auch Segen für Marken.

Das Thema des ersten Expertenforums in diesem Jahr war durch die aktuelle Lage geprägt: „Marken im Lockdown: Trauma oder Chance?“ Dabei war „die Marke“ im Fokus des Vortrags von Dr. Martin Andree. Der Marketing-Experte und Buchautor arbeitete viele Jahre bei Henkel, lehrt heute an Universität zu Köln und gründete mit AMP Digital Ventures ein eigenes Unternehmen. 

Warum können wir uns an alte Kampagnen besser erinnern als an aktuelle? Mit dieser Frage konfrontierte Martin Andree seine Zuhörer. Er skizzierte kurz die Geschichte der klassischen Markenartikel, die eng mit dem Aufkommen der Massenmedien zusammenhängt. Die vier Säulen der Marke seien Massenproduktion, Massenvertrieb, Massenkommunikation und etwas, dass Andree als „Mass Feedback Technologies“ beschrieb – die Möglichkeiten, mehr über Kunden zu erfahren, etwa durch Marktforschung. Diese vier Elemente würden sich gegenseitig und der Markenidee Kraft geben.

Die Markenidee dehnt sich aus

In den vergangenen zwanzig Jahren habe sich jedoch etwas verändert: Die Digitalisierung unseres Lebens. Doch die habe die vier Säulen der Marke nicht abgeschafft, sondern sich nur quantitativ ausgeweitet. Digitale Medien ermöglichen es heute, jeden überall zu jeder Zeit zu erreichen, E-Commerce befreite den Vertrieb von räumlichen Ladengeschäften und Öffnungszeiten, ein Kundenfeedback bekomme man heute unmittelbar, in Realtime. Eigentlich ermöglicht die Digitalisierung der Marke mehr Power. Andree findet dafür Belege außerhalb des Konsums – in Kultur und Politik wird heute mit den Methoden des Marketings gearbeitet, man müsse nur an die Marke „Trump“ denken. Und wir alle verstehen uns heute als eine individuelle „Personal Brand“, die wir in sozialen Medien pflegen. Es scheint so, als lebten wir gerade im goldenen Zeitalter der Marke und das Marketing habe die Weltherrschaft übernommen, meinte Andree im ironischen Tonfall.

Aber die Situation sehe bei den Markenherstellern anders aus. Seit Jahren sei bei den großen Markenartikel-Herstellern nur ein geringes Wachstum zu beobachten. Im Vergleich zur Situation vor zwanzig Jahren scheinen die etablierten Marken unter Druck zu sein. Wird hier vielleicht schon ein totes Pferd geritten?

Andrees These: „Die Digitalisierung fördere zwar die Markenidee, durch die Hyperkomplexität sei es aber gleichzeitig für herkömmliche Massenmarken schwieriger, erfolgreich zu sein.“ Fast jeden Monat tauchen neue Technologien, Geräte und Medienformate auf. Alle diese Kanäle zersplittern sich auch immer mehr, was sich in den Inhalten und Werbebotschaften widerspiegele. Starke ikonische Kampagnen haben es deshalb in einer fragmentierten digitalen Welt schwer, die eine, konsistente Geschichte zu erzählen.

Zwei Arten der Kommunikation

Der Referent stellte zwei Prinzipien der Kommunikation nebeneinander: Bei „Forced Views“ handelt es sich um das Verbreiten von Botschaften „top down“, zentriert auf das beworbene Produkt, welches von sehr vielen Konsumenten gleichzeitig, passiv aufgenommen wird. Werbung in klassischen Medien funktioniere noch heute so. Auf der anderen Seite gebe es das Prinzip der „Voluntary Views“ – die Menschen schauen nur das, was sie wollen. Ihre Bedürfnisse spielen dabei die wichtige Rolle, es handelt sich um eine aktive Rezeption. Hier steht nicht mehr das Produkt, sondern interessanter Content im Mittelpunkt. Statt hoher Reichweiten habe man eine Nutzung mit hoher Intensität. Dieses Prinzip finde man bei den vielfältigen Spielarten der digitalen Kommunikation.

Kritisch sei, dass diese beiden Medienwelten komplett widersprüchlich sind. „Die ergänzen sich wie Feuer und Eis“, fasst Andree die Situation zusammen. Aktivitäten in der „Forced-View“-Welt würden die in der „Voluntary View“-Welt behindern – und umgekehrt. Mit diesem Problem sind die Marketing-Entscheider von heute konfrontiert, wenn sie die Vielfalt der Werbemöglichkeiten mit ihren Experten diskutieren. Jede Abteilung versuche, nach der eigenen Logik ihre Maßnahmen durchzusetzen. Ist es da überhaupt noch möglich, eine Balance zu finden?

Innovation, Komplexität, Marke

Viele Marketing-Strategien versuchen, die digitale Transformation zu beschleunigen, mehr Daten und personalisierte Werbung einzusetzen und gleichzeitig authentische Botschaften an die Konsumenten zu richten, mit ihnen auf Augenhöhe zu sprechen. Doch bleibe oft ein komisches Gefühl dabei zurück. Reicht das alles? Machen die Wettbewerber nicht das gleiche? Hier müsse man, so Andree, die eigene Komfortzone verlassen.
Drei Punkte empfiehlt der Marketing-Experte seinen Zuhörern: Erstens ginge es um Innovation-Leadership. Denn, so seine Beobachtung, seien es ja die traditionellen Marken, die es in letzter Zeit schwer haben. Es gebe aber junge „Challenger Brands“ und Start-ups, die erfolgreich in der neuen Medienwelt wachsen. Sie werden durch Innovationen getrieben. Die „etablierten“ Konzerne haben die Aufgabe, Innovationen im eigenen Haus zu entwickeln, anstatt Start-Ups aufzukaufen oder sie zu kopieren. Hier heißt es: „Disruptiert die Disruptoren!“, so die Empfehlung von Andree.

Den zweiten Punkt beschreibt Andree mit „Embrace Complexity“. Man müsse sich der Vielschichtigkeit der digitalen Welt stellen und Marketing-Technologien richtig einsetzen.
Zum Dritten müsse man die Marke wieder in den Mittelpunkt aller Aktivitäten stellen. Sie sei der der heilige Gral. Die vielen vereinzelten und technisierten Maßnahmen der digitalen Welt müssen konsequent der Marke unterstellt werden, sie seien nur Instrumente im Dienst der Marke.

Wenn man diese drei Punkte meistere, würden wir uns einem neuen goldenen Zeitalter der Marke nähern, so das Schlussresümee von Martin Andree. 

„Dashboards sind das Hauptproblem“

In der anschließenden Diskussion vertiefte er einige Aspekte. Man käme nicht drumherum, die Organisation der Marketing-Abteilungen zu überdenken. Neue Spezialabteilungen würden nur neue Silos schaffen, aber die Maschine müsse als Ganzes laufen. Wie das funktioniert, könne man bei Start-Ups beobachten: Die würden deshalb erfolgreich sein, weil alle Prozesse nur auf die eine Marke hin optimiert wurden. Wenn sie aber aufgekauft und in einen Konzern integriert werden, zeigen sich die Probleme durch das Aufbrechen der erfolgreichen Struktur.
Auf die Frage, ob Dashboards der richtige Weg seien, der digitalen Komplexität zu begegnen, antwortete der Referent skeptisch: „Ich liebe Dashboards, aber sie sind gleichzeitig das Hauptproblem.“ Gerade sei eine Generation von Managern in der Verantwortung, die nur noch die Arbeit mit Dashboards kennen, aber nicht mehr in der Lage seien, die Daten zu hinterfragen. „Wir brauchen nicht nur künstliche Intelligenz, sondern auch natürliche Intelligenz“, so Andrees Schlusssatz.

Das Screenforce-Expertenforum „Marken im Lockdown: Trauma oder Chance?“ fand am 18. März 2021 als Live-Online-Event statt. Malte Hildebrandt, Geschäftsführer von Screenforce, moderierte die Veranstaltung souverän und begrüßte die Referenten im Studio der Mediengruppe RTL in Köln. Dabei wurde er unterstützt von Uschi Durant, die sich den im Online-Chat gestellten Fragen aus dem Publikum widmete.

Hinweis:

Die Vorträge und Präsentationen sind auf der Website von Screenforce verfügbar.

Dirk Engel